Der eine oder andere mag sich an einen Post aus dem April 2015 erinnern, einen Post mit dem Titel „Und Gent hat noch so viel mehr zu bieten“. Dieser Post stellte, seien wir ehrlich, eine Resterampe all dessen dar, was ich in meinen anderen beiden Gent-Posts nicht unterbekam, aber trotzdem für berichtenswert hielt. Im Rahmen einer Presse- oder Bloggerreise kann man vieles ja nur anreißen, nicht nur für die Leser, auch für den Blogger oder Journalisten selbst ist so ein Trip oft nur eine Versammlung von Appetithäppchen. Richtig satt wird man erst dann, wenn man noch mal privat wiederkommt und sich wirklich Zeit für die Stadt und die Aktivitäten nimmt.
Eines meiner 2015 angeteaserten Highlights stellte die lebendige Streetart-Szene Gents dar. Damals schrieb ich: „Ich mag Street Art, sofern man das so pauschalisieren kann, habe davon allerdings ungefähr so viel Ahnung wie von bemannter Raumfahrt. Aber das macht ja nichts. Man kann ja auch Astronaut werden wollen, ohne selbst eine Rakete zu konstruieren. Oder so ähnlich.“ Wir nahmen mit, was im Vorbeigehen möglich war, was durchaus beträchtlich war, denn Streetart ist in Gent wirklich überall, aber für eine systematische Herangehensweise blieb keine Zeit. Dabei bietet Gent etwas, was wahrscheinlich kaum eine andere Stadt im Angebot hat: Einen Streetart-Stadtplan, ein Verzeichnis von 52 Kunstwerken, quer durch die Stadt verteilt, mit ihren Standorten und Infos zum jeweiligen Künstler, eine Tour von 14,5 Kilometern, wenn man nichts verpassen möchte – die Concrete Canvas Tour. Und deshalb war mir klar: Sollte ich einmal nach Gent zurückkehren, würde ich die gesamte Strecke abklappern. „Sport“ und Kunst in einer Aktivität vereint und das auch noch kostenlos, wo gibt es das schon? Und im Mai 2016 war es dann soweit.
Nachdem der Freund und ich bereits Antwerpen und Mechelen unsicher gemacht hatten, verschlug es uns zu guter Letzt also nach Gent. Unser B&B verlieh Klappräder, in der Touristeninformation erhielten wir einen aktuellen Plan der Tour und so machten wir uns an einem matschig-grauen Tag, an dem die Sonne nur ab und zu ihr Lächeln zeigte, auf, die Stadt und ihre künstlerische Ader zu entdecken. Die Tour ist zwar durchnummeriert, hat aber keinen Anfang und kein Ende, im Prinzip kann man an jedem beliebigen Punkt starten. Und das taten wir dann auch. Mit der Nummer 20 (die sich praktischerweise in der Nähe unseres B&Bs befand), einem großflächigen Reiher aus der Feder Sprühdose des weithin bekannten und aus Gent stammenden Streetart-Künstlers ROA, den ich für seine monochromen, extrem realistischen Tierdarstellungen mehr als bewundere. Man kann auch sagen: Ich bin ein Fangirl. Würde mir jemand eine Weltreise auf den Spuren von ROAs Murals anbieten, ich wäre sofort dabei. Wir hatten keine großen Pläne für den Tag, aber eins war für mich klar: Ich würde so lange suchen, bis ich zumindest alle verzeichneten ROAs auf der Karte gefunden hätte. Alles andere wäre das i-Tüpfelchen, das Sahnehäubchen.
Es fing schon gut an: Nachdem der Reiher noch sehr einfach zu finden gewesen war, scheiterten wir bereits an der Nummer Zwei (beziehungsweise der Nummer 21), die sich laut Karte nicht weit entfernt auf der anderen Seite des Kanals befinden sollte. Wir fuhren ungelogen dreimal die ganze Straße entlang, was bedeutete, dass wir dank Einbahnstraße dreimal um den Block fuhren, bis wir das Ding fanden. Nun gut. Das nächste war wieder nur ums Eck und sehr einfach zu finden. Schwierig wurde es dann erneut bei 23 und 24. Und 24 war ein ROA. Wir suchten uns blöd. Und fanden nichts. Und bei ROA kann man eigentlich davon ausgehen, dass seine Werke nicht gerade klein sind. Ich googelte also die Adresse und ROA und fand haufenweise Fotos von einem wandfüllenden Büffel. Einem Büffel von sicher 40 Quadratmetern. Aber da, wo wir standen, und wir standen richtig, war einfach kein Büffel zu sehen. Wir verglichen die Bilder mit der Umgebung und irgendwann fiel es uns wie Schuppen von den Augen: Die Wand war einfach nicht mehr da. Jemand hatte sie abgerissen und den ROA einfach mit. Und ja, ich war enttäuscht. Sehr. Wir waren bereits eine ganze Zeit unterwegs, waren keinen Kilometer weit gekommen und die Zahl der ROAs hatte sich mir nichts, dir nichts mal eben um 25% reduziert.
Dafür machten wir im Anschluss ordentlich Meter, denn die nächsten auf der Karte markierten Kunstwerke waren echt weit entfernt. Und führten in Teile von Gent, die man ansonsten als Tourist vermutlich selten besucht. Ohne Fahrrad ist die Tour in ihrem ganzen Ausmaß definitiv nicht möglich. Oder zumindest würde ich es nicht empfehlen. Gerade in den Randbezirken ist ordentlich Luft zwischen den einzelnen Punkten und die Umgebung ist jetzt nicht unbedingt so malerisch wie Gents historische Innenstadt ;)! Das ist zwar auch spannend, aber zu Fuß wollte ich dann doch nicht an so einer riesigen Hauptstraße entlangspazieren wollen. Auch hier stellten wir fest, dass (eigentlich wenig verwunderlich) Streetart ein vergängliches Medium ist. Es passierte immer wieder, dass wir einfach nichts fanden. Aber dafür fanden wir auch immer wieder Bilder (ich weiß, das ist nicht gerade Streetart-Fachsprech), die nicht auf der Karte verzeichnet waren. Kein Wunder, immerhin hatten die Macher der Karte über 200 Streetart-Kunstwerke zusammengetragen und nur weniger als ein Viertel in dem Plan verarbeitet. Zudem kommt sicher ständig auch noch etwas Neues dazu. Wenn man also mit offenen Augen unterwegs ist, steigt die Zahl dessen, was man Ende des Tages so gesehen hat, weit über die eigentlichen 52 hinaus.
Wir fuhren und fuhren und enterten irgendwann das Studenten- und Univiertel von Gent, wo die Zahl der Kunstwerke wieder erkennbar anstieg. Hier fanden wir auch direkt einen meiner Favoriten: ein wirklich sehr großes Mural von „A squid called Sebastian“, das ich auch als Titelbild für den Post gewählt habe. Keine Ahnung, was der Maskenmann mit seiner Lupe zu finden versucht, aber ich finde ihn gut. Trotzdem befand ich, dass das Foto so an sich ziemlich langweilig wirkte und bat den Freund daher, doch bitte einmal mit dem Fahrrad daran vorbeizufahren. Und was ich damit meinte war: fahren. Ganz normal, von rechts nach links. Er aber hatte anderes im Sinn. „Ich mache einen Wheelie für dich“, verkündete er. Und wischte all meine Einwände, dass er sich dabei doch garantiert übelst auf die Fresse legen würde, mit einem Handstreich vom Tisch. Die ersten zwei Versuche fielen relativ mau aus. Das Rad war zwar in der Luft, aber auch nur eben so. Dafür schwang seine Umhängetasche inklusive Kamera innen drin gefährlich hin und her. „Die lege ich wohl mal besser ab“, befand er. Diesmal stimmte ich ihm zu. Und er nahm ein drittes Mal Anlauf.
Er näherte sich der Mitte des Murals, die er als Ort des Geschehens auserkoren hatte, riss das Rad hoch und … machte einen 1A-Wheelie, während ich ein 1A-Foto davon machte. Obwohl, kann man es Wheelie nennen, wenn man anschließend nicht wieder mit dem Vorderrad, sondern wie ein Käfer auf dem Rücken landet? Genau das passierte nämlich. Wie man auf dem Foto auch gut erkennen kann. Der Schwerpunkt liegt hier eindeutig schon viel zu weit hinten, als dass er noch irgendeine Chance gehabt hätte, den Lenker wieder herumzureißen. Und so lag er da mit seinem Klapprad im Arm und stöhnte, während ich – nachdem ich mich zunächst furchtbar erschrocken vergewissert hatte, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war – anfing zu schimpfen wie ein Rohrspatz. „Du bist ja so bescheuert. Das war von vornherein klar. Hast du dir mal die Konstruktion des Fahrrads angeguckt? Das wäre selbst einem Fünfjährigen klar gewesen…“ – ganz normale Reaktion meinerseits also. Langsam berappelte er sich wieder. Die (leider noch recht neue) Jacke hatte ein Loch, er ein paar blaue Flecken, aber sonst war alles heile. Zum Glück. „Irgendwie war das aber auch cool, oder? Zeig mal die Fotos.“ Ich gab ihm die Kamera, er klickte sich durch die Aufnahmen und dann fing er an zu lachen. „Wenn es sich dafür nicht gelohnt hat, dann weiß ich es auch nicht“, sagte er und reichte mir die Kamera zurück. Und dann lachten wir beide. Der perfekte Augenblick, der beste Gesichtsausdruck ever. Und definitiv ein Moment, an den wir uns erinnern werden.
Vom Univiertel aus enterten wir das Stadtzentrum, was bedeutete: Kopfsteinpflaster. Und zwar von diesem Moment an fast überall. Wir hatten zwar schon ein paar entsprechende Abschnitte hinter uns, aber hier wurde es heftig. Fahrräder und Kopfsteinpflaster sind ja immer nur eine semigute Kombination, aber einfache Klappräder und Kopfsteinpflaster sind der Tod für Rücken und Hintern. Glaubt mir. Ich konnte danach drei Tage kaum sitzen ;)! Am zentralen Goudenleeuwplein beschlossen wir, eine Pause einzulegen und einen Happen zu essen. Wir waren mittlerweile seit Stunden unterwegs und wirklich hungrig. Das traditionsreiche „Max“ sah nett aus und ich hatte gehört, dass hier die Brüsseler Waffel erfunden worden sei. Warum also nicht, dachten wir. Nur für den Fall, dass Ihr das auch mal denkt: TUT DAS NICHT. Wir bestellten eine einfache Waffel mit Puderzucker, bezahlten dafür einen horrenden Preis, sie schmeckte schlicht nach nichts und der Kellner war der sauunfreundlichste Typ, der mir jemals untergekommen ist. Hätte ich mal vorher die Bewertungen bei Google gelesen, dann wäre mir das wohl erspart geblieben. Angesichts der Tatsache, dass man in Gent an so vielen Stellen lecker essen kann (siehe hier und hier): ein echter Griff ins Klo. Ich bitte Euch: Lernt wenigstens Ihr aus meinem Fehler ;)!
So, nachdem ich jetzt schon einen Roman geschrieben habe, kürze ich mal ab: Wir beendeten die Tour nach sage und schreibe acht Stunden. Es dämmerte bereits. Wir hatten einen Großteil dessen, was die Tour versprach (und noch mehr) gesehen, einiges davon fotografiert (das was Ihr hier seht, ist nur ein Bruchteil), waren fix und alle, aber doch unglaublich angefixt. Noch am selben Abend recherchierten wir auf Instagram, bei Flickr und auf einschlägigen Blogs nach noch mehr sehenswerter Streetart in Gent, markierten uns die Orte, soweit wir sie herausfinden konnten, auf der Karte und zogen am nächsten Tag gleich noch mal los. Mehr als die drei verbliebenen ROAs der Concrete Canvas Tour fanden wir zwar nicht, dafür waren die Angaben zu wage und unsere Zeit zu begrenzt, aber dafür noch einige andere von den lokalen Künstlern Resto und vor allem Bue the Warrior, der für die bunten, comicartigen Figuren verantwortlich zeichnet, die man in der ganzen Stadt wiedertrifft. Mein Fazit: Wenn Ihr Euch auch nur ein bisschen für Streetart interessiert, dann macht das. Leiht Euch ein Fahrrad und schenkt der Concrete Canvas Tour einen Tag. Man sieht so viele Seiten von Gent, kommt unglaublich viel rum, sieht so viel coole Kunst und erlebt die Stadt ganz anders, als man es sonst tun würde.
Beim Durchzählen ist mir übrigens gerade aufgefallen, dass sich doch vier ROAs in diesem Post verstecken. Ein Reiher, ein Rabe, ein Haufen Hasen und ein Stapel Schweine. Und jetzt, da ich darüber nachdenke, fällt mir auch wieder ein wieso: Die letzte noch existente Nummer auf unserer Tour, die Nummer 17, entpuppte sich als ein Graffiti Jam, an dem sich unzählige Künstler beteiligt hatten, die ganze Straße war bunt. Und mittendrin: die Schweine. Das hat mich sehr glücklich gemacht. Weil 1) ROA und 2) Schweine. Schweine sind auf meiner Lieblingstiere-Liste nämlich ziemlich weit oben. Neben ROAs Schweinereien und dem anderen Getier hat mich in Gent noch ein anderes unglaublich riesiges Mural ziemlich begeistert zurückgelassen: Das von Ericailcane, von dem ihr etwas weiter oben einen Ausschnitt mit Elefanten und Vögeln sehen könnt. Links aus dem Bild raus ging das mindestens noch mal so lang weiter. Googelt den Typ mal, der macht unglaublich coole Sachen. Und ich hätte seine Arbeiten nie entdeckt, wenn ich mich nicht mit dem Fahrrad auf Entdeckungstour begeben hätte. Ich sage es also noch mal: Macht das. Echt jetzt :)!
Und Ihr? Wie steht Ihr zu Streetart und welches Kunstwerk in diesem Post gefällt Euch am besten?
Hinweis: Ich habe die Bilder in der Reihenfolge der Tour abgebildet, so wie wir sie entdeckt haben. Nur falls Ihr Euch wundert, warum Text und Bilder nichts unbedingt zusammenpassen.
ich mag ROA auch sehr. wir hatten in wien ein tolles, leider ist es schon ziemlich übersprüht.
Was war es denn? Oder was ist es noch?
schick 🙂 ich liebe solche entdeckungstouren… das hat mir auch berlin auf jeden fall sympathischer gemacht 😀
Das glaube ich gern. In Berlin würde ich mir auch gerne mal auf Streetart-Entdeckungstour begeben. Vielleicht mache ich das tatsächlich mal und du bist mein Guide. Vielleicht dann schon mit Kinderwagen ;)!
da sind ja echt einige coole dabei, das mit den Elefanten und den Vögeln finde ich toll
und das es in Gent so viel tolle Street Art gibt und das ROA von dort kommt wusste ich auch gar nicht, da muss ich dann wohl auch mal hinfahren 🙂
ich finde ja gut gemachte Street Art echt toll, noch mehr, nachdem ich in London eine Street Art Tour gemacht habe, bei der ich noch viel neues gelernt habe, letztes Jahr war ich dann auch in Bristol, der Heimatstadt von Banksy, wo es auch ziemlich viele coole Sachen gibt
liebe Grüße
In London habe ich zwar keine Tour gemacht, aber eine Entdeckungstour auf eigene Faust. Ich glaube fast, dass ich da auch zum ersten Mal bewusst auf ROA aufmerksam geworden bin!